Ein Rastloser in Sachen Musik - in Memoriam Gottfried Schmiedel
Irgendwann in den frühen 70ern saß ich bei ihm zu Hause in der Veranda, in einer alten Villa ziemlich hoch oben am Hang im Dresdner Zweiten Steinweg, um mir Bluesplatten auflegen zu lassen. Ich saß da, trank Rotwein mit ihm und ich habe in Zeitungsseiten geblättert, die mit einem Aufkleber versehen waren und darauf stand: VEB Zeitungsausschnittdienst. Das war eine Einrichtung, die Journalisten mit ausgewählten Zeitungsausschnitten aus dem Westen versorgte.
Zu Hause bei Gottfried war es urgemütlich. Die Regale waren voller Bücher und haufenweise Schallplatten. Klassik, Jazz, Blues, Beat und Rock – alles, was das Herz eines von Musik besessenen, eines Liebhabers und Allround-Könners brauchte und liebte. In der liebevollen Unordnung fand man interessante Lektüre zum Stöbern und immer wieder etwas, über das man reden und diskutieren konnte. Dazwischen stand die Tasse Tee oder die Flasche mit Rotwein und unsere Gläser. Es war beinahe wie zu Hause, nur anders.
Wie einst die fahrenden Sänger des Mittelalters zog der freischaffende Musikwissenschaftler, oder war er eher Journalist, GOTTFRIED SCHMIEDEL durch die kleine DDR. Meist mit Schallplatten und Manuskriptseiten in der Tasche, um über Musik zu sprechen und sie zu spielen. Musik, die so manchem damals mehr als unverständlich und anstößig erschien, von Schostakowitsch, über Stockhausen bis hin zu den Beatles und Pink Floyd. Es machte ihm nichts aus, mit gleicher Besessenheit und Sachverstand über Bach oder Bartok zu sprechen, mit der er am nächsten Tag versuchte, vor seinen Zuhörern Louis Armstrong’s Musik lebendig werden zu lassen.
Meist trug der Mann mit dem runden Kinnbärtchen ein dezent kariertes Jackett und immer eine Fliege. So kannte ihn die Dresdner Musikwelt, wenn er zum Beispiel mit Günter Hörig auf der Bühne stand, und so kannte ihn auch manch anderer im Lande, wenn er irgendwo, vermittelt als Referent der URANIA oder in eigener Sache, seine Überzeugung formulierte und sein Wissen weitergab.
Eine Trennung von E- und U-Musik existierte für ihn nicht, wohl aber die ihm eigene Überzeugung, von guter und schlechter sowie die, von begeisternder und lapidarer Musizierweise.
Ich höre noch seine Worte und die Feststellung, dass zum Beispiel die „Bilder einer Ausstellung“ in der Version von Emerson, Lake & Palmer eine ernst zu nehmende zeitgenössische Interpretation des Werkes von Modest Mussorgski darstellten. Dafür oder auch für seine ausführlichen Gespräche über „Thick As A Brick“ von Jethro Tull und den Text von Ian Anderson liebten wir ihn. Durch ihn verstand ich sehr früh, daß die Spencer Davis Group nicht nur der Sound von „Keep On Running“, sondern eine der besten weißen Blues-Bands war. Er ist verantwortlich dafür, dass es in meiner Plattensammlung ein spezielles Fach für Orgelmusik gibt.
GOTTFRIED SCHMIEDEL verstand es, die deutsche Sprache in Wort und Schrift in ihrer ganzen Breite, Vielfalt und Schönheit zu nutzen, um seine Anliegen zu formulieren. Viele hatten ein Abonnement einer Sachsenzeitung nur deshalb, um seine Beiträge lesen zu können. Mit guten Beziehungen konnte man beim Buchhandel auch seine Bücher kaufen, das umstrittene erste Beatles-Buch der DDR ebenso, wie das über den Dresdner Kreuzchor oder Peter Schreier.
Was er tat, vollbrachte Gottfried mit Leidenschaft, Seele und einer Ausstrahlung, die Erwachsene und Jugendliche, Profis und Laien gleichermaßen begeisterte. Mutig ging er neue Wege, wenn es um die Popularisierung von Jazz ging oder wenn er mit Begeisterung Beat und Rock verstehen half. Das brachte ihm viel Zuneigung und Bewunderung ein, aber leider auch die Missgunst mancher Verantwortlichen, die in ihm einen Unbequemen sehen mussten und es ihn spüren ließen. Diese Oberflächlichkeit und dumme Ignoranz machte ihm zuweilen auch Angst.
Ich lernte ihn Ende der 60er durch einen Vortrag über die Beatles kennen und kam auf diese Weise mit ihm ins Gespräch, wir schrieben uns Briefe und wir trafen uns bei Veranstaltungen. Irgendwann lud er mich dann ein, sein Gast zu sein.
Auf diese Weise entstand beinahe Freundschaft zwischen einem jungen Neugierigen und einem gestandenen Musikwissenschaftler, die bis in die späten 80er hielt und ganz sicher zu meinen prägenden Erfahrungen gehört. Was ich von ihm lernen und erfahren durfte, bestimmt meinem Umgang mit Musik bis heute und ich wünschte, ich hätte es ihm zu seinen Lebzeiten noch sagen können. Dank wollte er ohnehin nie hören, aber er freute sich, wenn man lernen und verstehen wollte und mit offenen Sinnen nicht nur durch die Musikwelt lief.
Völlig überraschend ging dieses rastlose Leben für die Musik am 1. November 1987 zu Ende, ohne dass ich ihm je hätte sagen können, das ich ihn als Freund verstand. Ich denke, er hat es auch so gewusst.
Am heutigen 24. August 2010 würde GOTTFRIED SCHMIEDEL 90 Jahre alt werden und ganz sicher hätte er auch heute wieder Musik im Kopf und eine Fliege um den Hals.
DANKE Gottfried!