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DIE ZÖLLNER mit Horn-Section & SONNY THET - live in Gut Geisendorf

in Konzertberichte Ostrock allgemein 26.06.2011 16:50
von HH aus EE (gelöscht)
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ZwischenTraumZeit
Die Zöllner plus Horn-Section und Sonny Thet auf Guten Geisendorf


Es ist wieder mal ZwischenTraumZeit und das Fahrtziel heißt Gut Geisendorf nahe Neupetershain. Es ist der Ort mitten in der Lausitz, wo die Erde seit Jahrzehnten aufgerissen bis zum Horizont vor uns liegt, um ein kleines Stück Hunger nach Energie zu stillen. Es ist unsere Hatz nach schneller Lebensweise und unsere Gier nach den vielen hausgemachten Bedürfnissen, die wir massenhaft befriedigt wissen wollen, ohne nach den Folgen für uns selbst und den Globus zu fragen.
Die ZwischenTraumZeit gibt uns den Moment der Ruhe, gebietet uns Einhalt für den Blick in eine der klaffenden Wunden in der Natur. Für einen Bruchteil der Zeit, eine Dimension, die wir selbst gar nicht zu fassen in der Lage sind, können wir sehen und nachdenken, wenn wir denn wollen. Wir können uns an die Abbruchkante stellen, dorthin, wo vor zwei Jahren noch die Bühne für BAYON stand, und der Blick fällt plötzlich tief nach unten in das graue schmutzige Loch. Da unten steht, beinahe winzig, ein riesiger Phönix aus Holz, mit dem es eine besondere Bewandtnis hat und mittendrin, weit weg und noch tiefer unten, eine gigantische Förderbrücke. Verdammt, was komme ich mir klein vor!

Vor zwei Jahren war ich schon einmal an diesem Ort und bin zum Nachdenken verleitet worden.* Damals stand ich vor dem Riesenbagger und dem noch gewaltigeren Loch. Die sensible Musik von BAYON und die Worte von GOETHE waren ein gutes Mittel, ein wenig nachdenklich zu werden, den Spagat zwischen Lebenstrieb und stiller Verwundbarkeit zu erkennen und dabei an den baggerführenden GUNDERMANN zu denken. Der Rausch der Emotionen trägt mich bis heute und so folge ich dem Ruf VATTENFALLs zum Sommerfest auf der Wiese und vor dem Tagebauloch bei Gut Geisendorf zum zweiten Mal, denn eigentlich hat sich nichts, aber auch gar nichts im Denken der meisten Verantwortlichen geändert. Es gab die Ölkatastrophe von „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko und in Fukushima tobt die Kernschmelze, während so langsam für Milliarden Menschen das Trinkwasser knapp wird. Die Grünen machen einen auf Politik, lecken an der Verführung von Macht und deren Repräsentanten lassen sich abgasgewaltig in noblen Karossen durch die Gegend chauffieren – da ist es beruhigend zu wissen, dass wir in Europa gerade versuchen, einen totgeborenen Euro zu retten. Politik für’s Volk – wer will denn so was?

Manchmal sind schon ganz kleine Schritte in die richtige Richtung wegweisend. Das Sommerfest auf Gut Geisendorf ist so ein Ort, wo man das spüren kann und das Gefühl verbreitet wird, dass man mit Verantwortung auch verantwortungsbewusst umgehen kann. In diese Denkdimensionen passt die Winzigkeit eines „Käfers auf’m Blatt“ als eines der zerbrechlichen Gleichnisse für den natürlichen Reichtum um uns herum und vielleicht war dieser kleine Song von damals einer der Gründe, DIE ZÖLLNER an diesen Ort zu holen, die ZwischenTraumZeit auszufüllen.
Die Bühne steht diesmal auf der Rückseite des Gutshauses und das gesamte Areal dazwischen ist liebevoll sommerlich, dem Grundgedanken folgend, gestaltet. Man fühlt sich aufgenommen und aufgehoben gleichermaßen. Der Blick in die Umgebung ist frei, nur die Wolken versuchen, eine Drohkulisse aufzubauen – und wenn schon. Das Gelände füllt sich trotzdem und zwei Herren auf hohen Stelzenbeinen stolzieren, Seifenblasen pustend, durch die Menge. Wieder komme ich mir klein vor und wieder so ein Detail, das die Idee unterstreichen soll.

Die Wolken stehen hoch aufgetürmt hinter der Bühne als die ersten zarten Töne von dort erklingen. Allein im Bühnenhintergrund sitzt SONNY THET von BAYON mit seinem Cello, der Klang der „Barcarole“ aus seiner Solo-CD „Zauberland“ eröffnet den Abend und so schließt sich der Gedankenkreis zur ZwischenTraumZeit von vor zwei Jahren. Was für eine Dramaturgie!
Nacheinander betreten DIE ZÖLLNER die Bühne, mischen sich behutsam in den Sound ein und dann steht Zöllner in Person am Mikrofon, um mit „Nie mehr“ den Reigen für ein besonderes Konzert zu beginnen. Von nun an dominieren Funk, Soul, Grooves und eine Menge Hitze die Bühne, vor der sich zögernd immer mehr Besucher einfinden, um den leeren Platz da vorn auszufüllen. Spätestens bei „Allein“ und dem schmissigen „Lalala“ zucken die Körper. Ein heißes Saxophon-Solo von FRANK FRITSCH erntet Beifall und als dann ANDREAS BAYLESS seiner Gitarre einen Chorus entlockt weiß man, dass da vorn ein Original und „Sohn Mannheims“ in die Saiten greift.
Die ZÖLLNER mit ihrer Spielfreude wirken ansteckend, verbreiten gute Laune und der Wiedererkennungswert solcher Songs wie „Alles oder nichts“ ist hoch, zumal der zweite Teil des „Duos Infernale“, ANDRE GENSICKE, ein Funky-Solo in seine Tasten zaubert. An den vier tiefen Saiten zeigt JENS BRÜSSOW, wie frech ein Bass darauf antworten kann. Da bietet es sich natürlich an, neue Songs wie „Schönen Tag“ einzustreuen und auf ein kommendes neues Album zu verweisen. Der Song passt prima zu den vielen anderen Liedern über die Liebe, die sich Dirk Zöllner manchmal aus seinem Herzen zu reißen scheint. „Mach dein Herz auf“ heißt es in „Laß’ mich rein“ (1996), „und wärme mich“. Solche Zeilen sind für mich das, was deutsche Rocklyrik ausmachen kann und ich liebe Nummern wie „(Du siehst) Gut aus“, die einfach nur satt in die Beine gehen, damit sich die Mischung Soul’n’Funk mal so richtig austoben kann. Auf diese Weise tanzen und wippen sich die ersten Reihen vor der Bühne so langsam in die Abenddämmerung am Rande des Tagebaus.

In einer Pause werden Feuer entzündet und die Dunkelheit übernimmt das Zepter. Wieder ist es der „König der Cellisten“, der mit seinem Spiel die „Süßen Sekunden“ einläutet. Mit „Uferlos“ hören wir einen weiteren stimmungsvollen Song vom kommenden Album, das wahrscheinlich auch so heißen wird, und beinahe a capella genieße ich den „Käfer auf’m Blatt“, der mit seinen 25 Jahren noch immer weich und zerbrechlich daher kommt. So viel Zeit zur Besinnung muss schon sein.
Sommerfest heißt auch Partystimmung und die verbreiten DIE ZÖLLNER von nun an. Da stampft groovend „Laß’ es zu“ über die Bretter und ein weiterer „Sohn Mannheims“, RALF GUSTKE am Schlagzeug, zeigt, was in ihm an Feuer und Power steckt. Wir schweben „20000 Meilen (über dem Meer)“ und dazu entlockt der kleine Mann am Cello seinem Instrument swingende Grooves, die man schon einzigartig nennen darf. Natürlich gibt es jetzt „Aus Liebe“ und Dirk Zöllner nutzt diese Gelegenheit, uns seine Musikerkollegen vorzustellen und dabei räumt er seiner Horn-Sektion, FRANK FRITSCH (sax), DAVID „Skip“ REINHART (trump) und GERALD „Herr“ MEIER (pos) und deren Soli einen besonderen Platz ein, denn die drei Herren verhalfen dem Abend zu einem eher seltenen und sehr besonderem Flair, das heute nicht mehr viele Bands aufzubieten haben. Vor der Bühne am Boden sitzend, genieße ich die Minuten und die Reminiszenz an Ray Charls’ „Hit The Road Jack“, zu der uns „Scholle, der Zöllner“ verleitet und so manches „What’d You Say“ in die Nacht geschmettert wird. Nicht die Perfektion, sondern das Gefühl zählt und das hat viele mit großer Begeisterung in die Nacht geleitet. Zum Ende gibt’s noch mal ein gefühlvolles „Viel zu weit“ und ein rotziges „Arschgesicht“ hinterher. Voll auf die Zwölf, damit die Stimmung noch eine Weile hält, denn ….

…. wir werden von den entrückten Klängen eines Cellos an die Abbruchkante des tiefen Tagebaulochs gerufen. Tief da unten in der schwarzen Nacht und im Kegel eines grellen Scheinwerfers sitzt SONNY THET und formt Töne, die vielleicht Mutter Erde selbst hätte erzeugen können. Es klingt leise, besinnlich und auch beruhigend. Erst als der hölzerne Phönix da unten hell in Flammen steht, wie ein leuchtendes Fanal in der kahlen Weite, keimt die leise Hoffnung, er möge nicht einfach nur verbrennen, sondern aus seiner Asche möge einigen „Personen der Zeitgeschichte“ (Selbstbezeichnung Jürgen Trittin) die Erkenntnis keimen, dass ökologische Reden allein keine Veränderungen zustande bringen. Nur wer mit Taten ein Beispiel gibt, kann vielleicht die Menschen bewegen, selbst in Bewegung zu geraten. Wir im Osten haben das schon mal ausprobiert und mir ist, als wäre diese ZwischenTraumZeit und der brennende Phönix ein kleines Signal für eine neue Bewegung, die wir bräuchten. Eine von da, wo der Phönix glüht, eine von ganz unten, einen gewaltigen Ruck an der Basis, da bröckelt die Spitze von allein.

Angefügte Bilder:
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zuletzt bearbeitet 27.06.2011 07:25 | nach oben springen

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RE: DIE ZÖLLNER mit Horn-Section & SONNY THET - live in Gut Geisendorf

in Konzertberichte Ostrock allgemein 26.06.2011 20:57
von Kundi (gelöscht)
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Traurig bin ich nicht, dass ich dieses besondere Event nicht miterleben konnte, höchstens ein wenig neidisch.
Aber mir sind auch einige Freundschaften abseits der Musikszene wichtig und wenn ein Freund , denn ich schon runde 40 Jahre kenne, zur Geburtstags-Party lädt, fällt die Entscheidung leicht.

Lieber Hartmut,

Deinen Bericht habe ich verschlungen. Damit ist Dir wieder ein kleines Meisterstück gelungen. Manchmal ist es regelrecht gut solche streitbaren Gedanken über Mensch, Umwelt und Zeitgeschehen auch in einem Konzertbericht zu lesen. Schließlich leben wir nicht im luftleeren Raum. Dabei muss man auch gar nicht in allen Punkten einer Meinung sein. Mir gefällt es einfach, wie Du mich wiedermal zum Nachdenken angeregt hast. Bei einem Bier und Auge in Auge würde ich mit Dir gerne über Politik, Umweltzerstörung und Zukunftshoffnungen streiten.
Dass dieses Event großartig inszeniert war und Deine Begeisterung kann ich Deinen beschreibenden Zeilen auch entnehmen.

LG Kundi

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