#1

GESCHICHTEN aus VINYL - Teil 2

in Off-Topic 12.08.2009 18:30
von HH aus EE (gelöscht)
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Kurzgeschichten aus Vinyl - Teil 2

Im Leben meiner Generation spielte die Schulzeit eine andere Rolle, als die, mit der man im Heute konfrontiert wird. Als ein Indiz mag der Umgang mit den Lehrpersonal gelten und die Vorbildfunktion, die damit einhergeht. Über viele Dinge kann man geteilter Meinung sein, darüber allerdings ist Diskussion kontraproduktiv und Lehrer zu sein, ist sicher schon lange nicht mehr der Traum junger Leute. Sie selbst wissen wohl am besten, warum nicht. Spätestens da beißt sich das mit dem Vorbild selbst in den Schwanz, denke ich.

Als mein Russischlehrer, Hannes Weber, mir mal empfahl, zur Verbesserung meiner Kenntnisse eine Brieffreundschaft anzustreben, fand ich die Idee gut, sie kam ja von meinem Lehrer. Ich hab’s damals probiert, mein Interesse an Lenin-Postkarten und Pionierabzeichen legte sich allerdings sehr schnell.

Den zweiten Versuch startete ich während der Penne-Zeit und die Länder meiner Sehnsüchte war die CSSR und Polen. Das nette Mädchen aus Prag hat mir eine EP der CRYSTALS mit internationalen Cover-Versionen sowie Postkarten heimischer Gruppen wie FLAMINGO, APOLLO und OLYMPICS geschickt. Die EP hab’ ich noch, die Karten erschienen mir damals uninteressant, was sich längst als Irrtum herausgestellt hat.

Ein nette Dame namens Bozena aus einer Polnischen Stadt, den Namen weiß ich nicht mehr, schickte mir mehrere Postkarten, die kleine Mini-Schallplatten waren. Der Reiz bestand darin, daß darauf solche Sachen wie „Help!“ oder „Day Tripper“ von den Beatles „versteckt“ waren und nur wenige Plattenspieler nach dem Ausschalten immer noch weiter abspielen konnten. Außerdem schickte sie mir eine EP von BEMIBEK, die später als BEMIBEM bekannter wurden.

Beide Brieffreundschaften waren nur von kurzer Dauer, die Interessen waren wohl zu unterschiedlich und die Möglichkeiten zu eingeschränkt. Meine Lust auf mehr Schallplatten aus beiden Ländern war allerdings gerade erst erwacht. Die Möglichkeit zu einer Brieffreundschaft der ganz besonderen Art ergab sich 1971 quasi wie von selbst. Es war weder ein Wanja aus Moskau und auch keine Svetlana aus Polen, aber die Idee meines Russischlehrers, nach einem Briefpartner zu suchen, war die Lösung schlechthin, jedenfalls für mich, wie sich später herausstellen sollte.

Durch meinen Freund Georg ergab sich damals ein andere Möglichkeit, an die begehrten Polnischen Platten zu kommen. Eine befreundete Familie, die in Gdansk zu Hause war, hatte Georg’s Eltern zu einem Besuch eingeladen und für mich ergab sich die Chance, bei dieser Reise als Gast dabei zu sein. Dies geschah genau in jener Woche, in der im benachbarten Sopot das legendäre Liederfestival stattfand.

Zur eigentlichen Reise sei nur vermerkt, daß ich lernte, stehend in einem überfüllten Zug zu schlafen und ich durfte auch erfahren, daß man in Polen bis zum Nachmittagskaffee frühstücken konnte. Das mit den Arbeitszeiten wurde, zumindest in jenen Tagen, relativ locker ausgelegt und eine Wodkaflasche hat auch schon mal am Vormittag die Runde gemacht. Einschließlich der musikalischen Erlebnisse habe ich bis heute bleibende Erinnerungen daran.

Als Mitbringsel hatte ich einen Beutel(!) voller Schallplatten im Gepäck. Eine Entdeckung jener Tage war der Sänger TADEUSZ WOZNIAK und seine gleichnamige Platte. Der Mann hatte eine einprägsame und eindringliche Stimme, die irgendwie an Donovan erinnerte, und er sang wunderschöne Songs, aber vor allem dieses eindringlich und zerbrechlich klingende „Zegmarmistrz Swiatla“. In englisch von Donovan gesungen, wäre das ein Welthit gewesen!

Eine weitere Platte war die von MAREK GRECHUTA & ANAWA, die erste LP des Sängers, der Ende der 60er das Kabarett (!) ANAWA gründete. Als er ab den 70ern mit diesem Projekt auf Tour ging, wurde aus ANAWA seine Begleitband und diese erste LP zeigt die Faszination des Komponisten und Sängers GRECHUTA. In der DDR wurde er erst mit der zweiten LP „Korowod“ bekannt. Danach löste er die Band aber wieder auf und wandte sich erneut dem Kabarett zu. Im Oktober 2006 starb er von der „restlichen“ Musikwelt völlig unbeachtet in seiner Heimat Polen.
Ich habe ganz bewußt aus jenen Tagen diese beiden Platten von WOZNIAK und GRECHUTA ausgewählt, weil ich denke, daß die Personen und deren Musik, ähnlich wie bei NIEMEN, etwas Bleibendes in der Europäischen Musikkultur hinterlassen haben, obwohl alle drei vergessen scheinen.

Eine Begebenheit noch abschließend, weil sie aus heutiger Sicht zeigt, wozu Sammler in der Lage sein können, wenn sie ihr Objekt der Begierde im Visier haben.
Als ich zwischen 1968 und 1970 meinen Dienst „bei der Fahne“ in Berlin schrubben mußte, bestand die kulturelle Freizeitgestaltung meist darin, im Klubraum eine Cola zu trinken und etwas Musik zu hören. Es gab neben dem Tresen einen Plattenspieler und einen Schrank mit „künstlerisch wertvollen“ Inhalt, über den ich mich nicht weiter auslassen möchte. Wie durch Zufall hatte sich in diesen Schrank eine Single vom Horst Krüger Sextett verirrt und darauf war das Lied „Wirst du gehen“ (1969), daß von Krüger’s Gesang und Werner Düwelt’s Gitarre geprägt ist. Genau jener Düwelt, dessen Sohn Sebastian heute bei den STERNEN an den Keyboards sitzt.
Ich hab’ die Platte sehr oft gehört und konnte nicht mehr von ihr lassen. Zum Wochenendausgang hatten in Berlin die Plattenläden dicht und mein Geld hätte auch nicht für die 4,60 Mark kaum gereicht. Die Platte war irgendwann nicht mehr im Schrank des Klubraums aufzufinden, aber zu Hause habe ich mich weiter an der Musik erfreut, zumal auf der Rückseite JIRKA RIECKHOFF sang, der damals auch als Sänger bei den BEROLINA SINGERS bzw. mit Kurt Gerlach bei DREILÄNDERECK auf der Bühne stand. Die ALEXANDERS waren eigentlich die Band von HANSI BIEBL (ATLANTIS), der dann aber ausstieg und aus den BEROLINAS wurden die ALEXANDERS, die wiederum nach ihrer Auflösung den Kern von PANTHA RHEI bildeten. Daraus wurde später KARAT und der Rest ist Geschichte.

Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß dies nicht die letzte „Fehlleistung“ aus Sammelleidenschaft war, denn die einzige Single der BEROLINAS „Expresso“ ließ ich zwei oder drei Jahre später aus dem Archiv des Kreiskabinetts für Kulturarbeit, dort war mein erster Arbeitsplatz, spurlos verschwinden, um sie in meiner Sammlung wieder auftauchen zu lassen. Inzwischen gehe ich davon aus, daß diese (und andere) „Delikte“ als Bagatelle durchgehen könnten oder wenigstens inzwischen verjährt sind.

Ein Nicht-Sammler mag so etwas nicht nachvollziehen können, den Kopf schütteln oder es gar als Dummheit und Profilierungswut abtun. Er wird auch nicht verstehen, wenn ich heute ab und an mal ein Stück Papier signieren lasse oder von irgend einer Bühne einen Zettel „mopse“. Was soll’s !! So kann ich in 20 Jahren wieder und an anderer Stelle aus meinen Erinnerungen erzählen, sie mit Zeitbelegen garnieren oder gar in eine Ausstellung stecken. Ein Leben ganz ohne solche persönlichen Verrücktheiten und Episoden wäre ganz bestimmt nicht meines und zum Laubenpiper oder Kaffeefahrtenmitmacher tauge ich nicht. Also aufpassen Leute, noch habe ich Visionen und noch immer gibt es für mich „Objekte der Begierde“, die mich locken, auch wenn’s keine Frauen mehr sind. Das Altersheim muß wohl noch ein wenig auf mich warten und ein Teil von Euch wird mich „aushalten“ müssen!!


Angefügte Bilder:
Anawa_800_593.jpg
Bemibek_800_786.jpg
Berolinas_800_795.jpg
Crystals_800_785.jpg
Krüger_800_791.jpg
Postkarten_529_800.jpg
Wozniak_800_555.jpg
zuletzt bearbeitet 12.08.2009 18:31 | nach oben springen

#2

RE: GESCHICHTEN aus VINYL - Teil 2

in Off-Topic 13.08.2009 21:27
von Kundi (gelöscht)
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In Antwort auf:
Die Platte war irgendwann nicht mehr im Schrank des Klubraums aufzufinden, aber zu Hause habe ich mich weiter an der Musik erfreut,


In Antwort auf:
Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß dies nicht die letzte „Fehlleistung“ aus Sammelleidenschaft war, denn die einzige Single der BEROLINAS „Expresso“ ließ ich zwei oder drei Jahre später aus dem Archiv des Kreiskabinetts für Kulturarbeit, dort war mein erster Arbeitsplatz, spurlos verschwinden, um sie in meiner Sammlung wieder auftauchen zu lassen.


Ich bin entsetzt mit welch krimineller Energie die zu WErke gegangen bist

DANKE, für diesen zweiten Geschichtsausflug in VINYL.

LG Kundi


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#3

RE: GESCHICHTEN aus VINYL - Teil 2

in Off-Topic 13.08.2009 21:38
von PM | 4.235 Beiträge | 5060 Punkte

Auf diese Fortsetzung hab ich mit Spannung gewartet - wenn mir mal so eine alte Platte in die Hände fällt - weiß ich wenigstens wem damit eine Freude zu machen ist.
Nu wollen wir einfach mal noch in Teil 3 wissen, wie du an deinen Freund in Schottland geraten bist.


Klick mal druff hier:

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#4

RE: GESCHICHTEN aus VINYL - Teil 2

in Off-Topic 14.08.2009 09:25
von HH aus EE (gelöscht)
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Teil 3 ist geschrieben, Petra, nur die Bilder muß ich am Wochenende noch scannen. Ein wenig Geduld und dann kannst Du weiter lesen.

@Kundi: Kannst Dich ja mal für mich schlau machen, wie die aktuelle Rechtslage ist !

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#5

RE: GESCHICHTEN aus VINYL - Teil 2

in Off-Topic 14.08.2009 10:03
von ConnyCity (gelöscht)
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Auch wir sind gespannt auf Teil 3!! Ich sags ja immer gerne wieder, schreib ein Buch!! Solche Erinnerungen und "Objekte" kann einem keiner nehmen. Sicher sind die "kleinkriminellen Delikte" verjährt... und ich hätte genauso gehandelt. Also, schönes Wochenende!!
lg Conny u. Co.

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